BVerwG zu Drehfunkfeuern und Windenergie (Entscheidung vom 7. April 2016 – 4 C 1.15): „begrenzter Regelungsspielraum“ als neue Kategorie der eingeschränkten gerichtlichen Prüfung neben dem im Verwaltungsrecht anerkannten Beurteilungsspielraum?

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu der Vereinbarkeit von Windenergieanlagen mit so genannten Drehfunkfeuern (Entscheidung vom 7. April 2016 – 4 C 1.15, Vorinstanzen: OVG Lüneburg 12 LC 30/12, VG Hannover 4 A 1052/10) gibt Anlass, das Thema der unbestimmten Rechtsbegriffe auf Tatbestandsebene näher zu beleuchten: Der Kläger begehrte die Erteilung eines immissionsschutzrechtlichen Vorbescheids für die Errichtung von vier Windenergieanlagen, die sich in ca. 1,6 Kilometer Entfernung zu einer von der Deutschen Flugsicherung GmbH (DFS) betriebenen Flugsicherungseinrichtung befand. Das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung (BAF) brachte im Vorbescheidsverfahren vor, dass die Flugsicherungseinrichtung durch die Windenergieanlagen gestört werde. Um den Bedenken entgegenzutreten, legte der Kläger Gutachten vor, die belegten, dass Störungen nicht zu erwarten sind. Zunächst mit Erfolg. Das Verwaltungsgericht verurteilte die Genehmigungsbehörde, den begehrten Vorbescheid zu erteilen. Allerdings hob das Oberverwaltungsgericht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts auf. Dieser Entscheidung lag zugrunde, dass dem BAF für die Frage, ob eine Störung zu erwarten sei (§ 18a LuftVG), ein eigener – gerichtlich nicht überprüfbarer – Beurteilungsspielraum zustehe. Die durch den Kläger angestrengte Revision zum Bundesverwaltungsgericht blieb ohne Erfolg.

Beurteilungsspielraum / Einschätzungsprärogative

Anders als die im Verwaltungsrecht oft anzutreffende Ermessensausübung, die der Behörde auf der Rechtsfolgenseite einen gewissen Spielraum gibt (vgl. § 40 VwVfG, § 114 VwGO), eröffnen der so genannte Beurteilungsspielraum und die Einschätzungsprärogative einen Spielraum auf Tatbestandsebene. Unbestimmte Rechtsbegriffe auf Tatbestandsebene sind im Verwaltungsrecht keine Seltenheit. Das ist angesichts des Umstandes, dass der Gesetzgeber kaum alle denkbaren Konstellationen detailliert regeln kann, notwendig und begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Absatz 4 GG) und der Gesetzesbindung der Verwaltung (Art. 20 Absatz 3 GG) wird dadurch genüge getan, dass die Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe durch die Behörde grundsätzlich der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt (vgl. BVerfG Beschluss vom 31. Mai 2011 – 1 BvR 857/07). Das bedeutet, dass die Kompetenz für die letztendlich verbindliche Auslegung des Tatbestandsmerkmals dem Gericht zusteht. Von diesem Grundsatz werden indessen in bestimmten Fallgruppen Ausnahmen zugelassen: z.B. bei Prüfungsentscheidungen, beamtenrechtlichen Beurteilungen, wertenden Entscheidungen von Gremien, Prognoseentscheidungen und Risikobewertungen ist anerkannt, dass der Behörde ein gerichtlich nicht überprüfbarer Spielraum zukommen kann, was allerdings in der Regel voraussetzt, dass sich eine entsprechende Zuordnung der Entscheidungskompetenz dem Gesetz entnehmen lässt. Eine dogmatisch eigenständige Kategorie des gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraums stellt das so genannte Planungsermessen bzw. die planerische Gestaltungsfreiheit dar, für die sich die Abwägungsfehlerlehre entwickelt hat.

Beurteilungsspielraum bei der Auslegung von § 18a LuftVG?

In dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall kam es darauf an, ob dem BAF für die Frage, ob Bauwerke Flugsicherungseinrichtungen stören können im Sinne von § 18a Absatz 1 Satz 1 LuftVG, ein eigener – gerichtlich nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht. Das Verwaltungsgericht hatte diese Frage im Ergebnis verneint und ist dem vom Kläger vorgelegten Gutachten, das eine Störung für ausgeschlossen hielt, gefolgt. Eine schulmäßige Prüfung, bei der zunächst das Vorliegen eines unbestimmten Tatbestandsmerkmals und sodann nach Anhaltspunkte für eine behördliche Letztentscheidungskompetenz für die Auslegung dieses Merkmals zu suchen ist, gelangt zu keinem eindeutigen Ergebnis. Zwar entscheidet das BAF nach § 18a Absatz 1 Satz 2 LuftVG „… auf der Grundlage einer gutachtlichen Stellungnahme der Flugsicherungsorganisation, ob durch die Errichtung der Bauwerke Flugsicherungseinrichtungen gestört werden können“. Ob Flugsicherungseinrichtungen durch Bauwerke gestört werden können, ist aber bei unbefangener Betrachtung ein objektiver Umstand, der durchaus überprüfbar erscheint. Denn es ist objektiv zu ermitteln, für welche Zwecke Flugsicherungseinrichtungen verwendet werden und ob die technischen Funktionen und die Zweckerfüllung durch das Bauwerk beeinträchtigt werden können. Anders als bei den anerkannten Fallgruppen lässt die gesetzliche Grundlage hier nicht ohne weiteres einen der gerichtlichen Überprüfung entzogenen Raum erkennen. So kommt es beispielsweise bei der Fallgruppe der Prüfungsentscheidungen auf den subjektiven Eindruck der Prüfer an, der durch ein Gericht naturgemäß nicht überprüft werden kann. Ähnlich verhält es sich bei der Fallgruppe der beamtenrechtlichen Beurteilungen, bei denen ebenfalls subjektive Momente im Vordergrund stehen, die der gerichtlichen Kontrolle entzogen sind. Vergleichbar könnte allenfalls die Fallgruppe der Prognoseentscheidungen sein, bei denen der Behörde zugebilligt wird, die Einschätzung von Auswirkungen bestimmter Umstände und Maßnahmen letztverbindlich selbst vorzunehmen (z. B. bei naturschutzfachlichen Einschätzungen, Auswirkungen auf internationale Beziehungen im Sinne von § 3 Nummer 1 Buchstabe a IFG, vgl. BVerwG, Urteil vom 29. 10. 2009 – 7 C 22/08). Kennzeichnend für solche Prognoseentscheidungen ist, dass die Entscheidung auf einer künftigen Entwicklung aufbaut, welche bei gegenwärtiger Betrachtung keine exakte Vorhersage erlaubt und daher einer Beurteilung bedarf (BVerwG, Urteil vom 17.09.1981 – 2 C 4.79). Auch mit dieser Fallgruppe ist die Auslegung von § 18a LuftVG nicht zu vergleichen, denn hier geht es nicht um künftige Entwicklungen, auf denen die Entscheidung aufbaut, sondern vielmehr um die Frage, wem die Kompetenz zugeordnet wird zu bestimmen, ob eine Flugsicherungseinrichtung gestört werden kann.

Neue Kategorie: „begrenzter Regelungsspielraum“?

Das Bundesverwaltungsgericht hat die Frage zugunsten des BAF entschieden. Eine Analyse der Entscheidungsgründe steht noch aus aber so viel kann dazu bereits gesagt werden: Das Gericht billigt dem BAF bei der Auslegung und Anwendung von § 18a LuftVG einen gerichtlich nicht überprüfbaren Spielraum zu, den das Bundesverwaltungsgericht als „begrenzten Regelungsspielraum“ bezeichnet. Dieser betreffe die Fragestellung, ob Flugsicherungseinrichtungen gestört werden können. Dabei sei die Befugnis zur Anwendung der technischen Maßgaben, insbesondere nach ICAO Annex 10 und ICAO EUR DOC 015, letztendlich dem BAF zugewiesen. Nach den Erkenntnissen des Gerichts sei die vom BAF angewandte Methode der Erkenntnisgewinnung zur Störungsberechnung nicht zu beanstanden. Dass an dieser Methode Zweifel angemeldet worden seien und nach einer anderen Berechnungsmethode eine weitaus geringere Beeinträchtigung zu erwarten ist, ändere an diesem Ergebnis nichts. Dem Kläger sei es nicht gelungen, Fehler in der Methode des BAF aufzuzeigen. Den Konflikt zweier Gutachten, nämlich einerseits des Gutachtens des Klägers und andererseits des Gutachtens des BAF löst das Bundesverwaltungsgericht durch die Zubilligung eines begrenzten Regelungsspielraums zugunsten des BAF, dem damit die Hoheit über die Wahl der „richtigen“ Methode gegeben wird.

Kapitulation des Rechtsstaats

Praktisch wird damit dem Kläger die Beweislast dafür auferlegt, dass die Befürchtung des BAF unbegründet ist. Die Unerweislichkeit (non liquet), d.h. wenn dem Kläger der Nachweis nicht gelingt und offen bleibt, ob eine Störung zu befürchten ist, geht zu Lasten des Klägers. Das erscheint grotesk, zumal sich das BAF auf die mögliche Störung beruft und es eigentlich Sache des BAF wäre darzulegen, dass und aus welchen Gründen das klägerische Gutachten nicht zutrifft. Und es führt zu einer erheblichen Einschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten, denn dem Kläger ist es fortan nicht mehr möglich, Entscheidungen des BAF gerichtlich überprüfen zu lassen, es sei denn er kann nachweisen, dass die Methode des BAF fehlerhaft ist oder von falschen Annahmen ausgeht.

„begrenzter Regelungsspielraum“ als Ausweg für mangelnde gerichtliche Fachkompetenz

Bei Lichte betrachtet beinhaltet die hier vorgenommene Zubilligung des „begrenzten Regelungsspielraums“ aber keine prognostischen oder wertenden Elemente, sondern vielmehr die Einsicht, dass das Gericht nicht einschätzen kann, ob das BAF zu hohe Maßstäbe ansetzt bzw. empfindlicher als notwendig ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat klargemacht, dass die Entscheidung im Zweifel zugunsten des BAF ausfällt. Das erscheint mit Blick auf die potenziell katastrophalen Folgen der Störung von Flugsicherungseinrichtungen nachvollziehbar (§ 27c LuftVG). Gute Gründe sprechen dafür, dass der vom BVerwG ins Leben gerufene „begrenzte Regelungsspielraum“ eine neue Kategorie gerichtsfreien Spielraums darstellt, denn in die bekannten anerkannten Kategorien lässt sich diese Erscheinung nicht einordnen. Allein die Schwierigkeit einer Materie rechtfertigt die Zubilligung von nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbaren Spielräumen nicht. In solchen Fällen hat sich das Gericht der Hilfe Sachverständiger zu bedienen, um sich in die Lage zu versetzen, die Materie in einer für die Entscheidung notwendigen Tiefe zu durchdringen. Es trifft zwar zu, dass ein Beurteilungsspielraum oft bei fachlich schwierigen Themen angenommen wird. Die Zubilligung eines Beurteilungsspielraums erfordert aber stets auch, dass die Materie einer der gerichtlichen Kontrolle entzogenen Wandelbarkeit oder Ungewissheit unterliegt, die in einer wissenschaftlichen Dynamik liegen kann oder darin, dass die Entscheidung eine Prognose erfordert, die nach dem Gesetz durch die Behörde zu treffen ist. Bei der Frage, ob internationale Beziehungen berührt werden im Sinne des Informationsfreiheitsgesetzes, kann von einer solchen gerichtlich nicht überprüfbaren Materie ausgegangen werden, da dafür zahlreiche der gerichtlichen Prüfung nicht unterliegende Aspekte und zukünftige Entwicklungen und Pläne eine Rolle spielen (BVerwG, Urteil vom 29. 10. 2009 – 7 C 22/08). Gleiches gilt für Wertungen, die der Behörde oder einem Gremium anvertraut sind (BVerwG, Urteil vom 16. 5. 2007 – 3 C 8/06). In dem hier entschiedenen Fall sind aber weder eine Dynamik noch eine der Verwaltung überlassene Wertung hinreichend zu erkennen. Vielmehr kann anhand der Aufgabe des BAF und den Zwecken des Drehfunkfeuers naturwissenschaftlich ermittelt werden unter welchen Umständen von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen ist.

Rechtsstaatlich bedenkliche neue Fallgruppe

Dass das Bundesverwaltungsgericht den zuerkannten Spielraum nicht als „Beurteilungsspielraum“ bezeichnet, wie es die Vorinstanz (OVG Lüneburg, 12. Senat, Urteil vom 3. Dezember 2014 – 12 LC 30/13) getan hat, scheint zu belegen, dass es sich um eine neue Kategorie handelt. Neben der Einschätzungsprärogative und dem Beurteilungsspielraum scheint das Gericht damit eine weitere Kategorie eines gerichtlich nicht überprüfbaren Spielraums zu begründen. Die neue Fallgruppe, die im Wesentlichen darauf abstellt, dass das Gericht nicht weiß welchem Gutachten zu folgen ist, ist rechtsstaatlich bedenklich. Denn allein die Schwierigkeit einer Materie rechtfertigt es nicht, der Behörde einen gerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüfbaren Spielraum zuzuerkennen. Fachliche Defizite hat das Gericht durch Hinzuziehung von Sachverständigen zu beseitigen anstatt zu urteilen, dass die Materie vom Gericht nicht beurteilt werden kann und deshalb die Beurteilung der Behörde überantwortet wird. Das Gericht lehnt es damit praktisch ab, eine Prüfung vorzunehmen, was im Hinblick auf das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Absatz 4 GG großen Bedenken begegnet.