Abstandsflächenrecht: Oberverwaltungsgericht M-V modifiziert Rechtsprechung zu Abweichung von Abstandsflächenerfordernissen bei Windenergieanlagen: Abweichung nach § 67 LBauO M-V ist in Eignungsgebieten jetzt die Regel und nicht die Ausnahme

Von Windenergieanlagen (WEA) gehen nach fast einhelliger Rechtsprechung gebäudeähnliche Wirkungen aus. Deshalb haben WEA Abstandsflächen einzuhalten, die landesrechtlich vorgeschrieben sind. Die entsprechenden Regelungen finden sich in den Landesbauordnungen, in Mecklenburg-Vorpommern in § 6 Landesbauordnung M-V und sowie beispielsweise in § 6 Landesbauordnung Schleswig-Holstein (LBauO SH) sowie in § 5 Niedersächsische Bauordnung (NBauO), wo diese Abstände nicht als „Abstandsflächen“, sondern „Grenzabstände“ bezeichnet werden.

Gelingt es einem Vorhabenträger nicht, die entsprechenden Abstandsflächen auf eigenem Grund und Boden sicherzustellen, muss er sich um die Zustimmung des Nachbarn bemühen. Erlaubt der Nachbar dem Vorhabenträger, sein Grundstück als Abstandsfläche zu benutzen, so steht dem Vorhaben, was Abstandsflächen anbelangt, nichts entgegen. In den Landesbauordnungen ist vorgesehen, dass von dem Erfordernis der Abstandsflächen, bzw. in Niedersachsen von den Grenzabständen, abgewichen werden kann. Für diese Abweichungsmöglichkeit, die es auch in der LBauO M-V gibt, forderte das OVG M-V stets, dass eine atypische Situation vorliegen muss. Dieses Erfordernis wurde vom OVG M-V nun gelockert (OVG M-V Beschluss vom 12. November 2014, Az. 3 M 1/14). Aus den Entscheidungsgründen:

„Der Senat hat in seiner bisherigen Rechtsprechung zu § 67 Abs. 1 LBauO M-V als eine zwingende tatbestandliche Voraussetzung der Abweichungsentscheidung die grundstücksspezifische Atypik angesehen (OVG Greifswald Urt.v. 04.12.2013 — 3 L 143/10, juris). Daran hält der Senat fest, sieht sich aber mit Blick auf die Besonderheiten von Windenergieanlagen und ihre bauplanungsrechtliche Zulässigkeit veranlasst, diesen Grundsatz zu modifizieren. Windenergieanlagen sind, sofern für sie Darstellungen im Flächennutzungsplan oder Ausweisungen als Ziele der Raumordnung erfolgen, an anderer Stelle im Außenbereich nur ausnahmsweise zu verwirklichen, weil gesetzlich vermutet wird, dass ihnen an anderer Stelle in der Regel öffentliche Belange entgegenstehen ( 35 Abs. 3 S. 3 BauGB). Daraus folgt, dass Windenergieanlagen bauplanungsrechtlich jedenfalls dann regelmäßig nur auf den dafür durch einen Raumordnungsplan oder einen Flächennutzungsplan vorgesehenen Flächen errichtet werden können, wenn eine entsprechende Ausweisung erfolgt ist. Im Land Mecklenburg-Vorpommern sind durch die Regionalen Raumentwicklungsprogramme Windenergieeignungsräume als Ziele der Raumordnung ausgewiesen worden, in denen Windenergieanlagen errichtet werden können. Damit ist zugleich die Errichtung von Windenergieanlagen außerhalb dieser Windenergieeignungsräume grundsätzlich ausgeschlossen. Dies hat zur Folge, dass die Flächen, auf denen Windenergieanlagen errichtet werden können, auf bestimmte Gebiete im Außenbereich begrenzt sind. Diese Flächen weisen die Besonderheit aus, dass bei ihrer Ausweisung in den Regionalen Raumentwicklungsprogrammen die Grundstücksgrenzen und die damit verbundenen Abstandsflächen innerhalb der Windenergieeignungsräume nicht als Abwägungsmaterial herangezogen werden, weil die Möglichkeit der Einhaltung von Abstandsflächen als rein grundstücksbezogene bauordnungsrechtliche Anforderung auf der Planungsebene der Raumordnung keine Rolle spielt. Dies führt dazu, dass innerhalb von Windenergieeignungsräumen unter dem Aspekt der Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen Konflikte entstehen können, weil der Grundstückszuschnitt innerhalb dieses Gebietes kleinteilig ist und damit wegen der regelmäßigen Höhe der Windenergieanlagen und der damit einhergehenden Größe der Abstandsflächen die Errichtung von Windenergieanlagen wesentlich erschwert sein kann. Wenn innerhalb dieses Gebietes ein so hoher Grad an kleinteiliger Parzellierung besteht, dass die Errichtung von Windenergieanlagen in der Regel auf einem Grundstück unter Einhaltung der Abstandsfläche auf dem Grundstück nicht möglich ist, würde das Bauordnungsrecht vielfach der Ausnutzung von Windenergieeignungsräumen entgegenstehen und die – an anderer Stelle ausgeschlossene – planungsrechtlich gewollte Ermöglichung der Errichtung von Windenergieanlagen verhindern. Das öffnet den Anwendungsbereich des § 67 Abs. 1 LBauO M-V. Mit dieser Auslegung des § 67 Abs. 1 LBauO werden die Grundstücksnachbarn nicht unzumutbar in ihren Rechten auf Ausnutzung ihres Grundstückes beeinträchtigt. Auch wenn bei dieser Auslegung die Möglichkeiten, die Abstandsfläche auf ein fremdes Grundstück zu legen, erweitert werden mit der Folge, dass die bauliche Ausnutzung dieses in Anspruch genommenen Grundstücks beeinträchtigt wird, werden die nachbarlichen Rechte und Interessen durch die gebotene Ermessensausübung hinreichend geschützt. Der Senat hat erhebliche Zweifel an der Rechtsauffassung, dass es sich bei diesem Ermessen um ein intendiertes Ermessen handelt mit der Folge, dass nur bei Vorliegen besonderer Umstände insbesondere beim Grundstück des Nachbarn die Abweichungsentscheidung zu versagen ist. Wegen der mit der Abweichungsentscheidung verbundenen Beeinträchtigung des Nachbarn ist eine volle Ermessensentscheidung zu treffen, in der alle für die Ermessenausübung maßgeblichen Umstände einzustellen und miteinander abzuwägen sind.“ (OVG M-V Beschluss vom 12. November 2014, Az. 3 M 1/14)

Das bedeutet, dass in Eignungsgebieten in Mecklenburg-Vorpommern fortan praktisch keine Abstandsflächen mehr einzuhalten sind, denn einer Abweichung dürften nach der neuen Rechtsprechung des OVG M-V, die für bestimmte Flächen einen Verzicht auf das Erfordernis der Atypik beinhaltet, in aller Regel keine Gründe entgegenstehen.