Suchmaschinenurteil – Paukenschlag aus Luxemburg: EuGH spricht sich überraschend für ein „Recht auf Vergessen“ im Internet aus – Archiv-Rechtsprechung des BGH auf dem Prüfstand

Überraschend hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) für ein Recht auf „Vergessen werden“ im Internet ausgesprochen. Für Viele dürfte die Entscheidung Anlass zu neuer Hoffnung sein. Bislang war es sehr schwierig, einer alten Berichterstattung presserechtlich oder medienrechtlich entgegenzutreten, denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) bestand ein Löschungsanspruch grundsätzlich nicht. Der BGH begründete seine Auffassung damit, dass, wenn ursprünglich zulässige Altmeldungen durch Zeitablauf unzulässig würden, der Beklagte verpflichtet wäre, von sich aus sämtliche Beiträge zu kontrollieren (vgl. BGH, VI ZR 227/08). Dadurch – so der BGH – würde ein erheblicher personeller und zeitlicher Aufwand ausgelöst und es bestünde die Gefahr, dass von einer Archivierung abgesehen wird, was eine unzulässige Einschränkung der Medien- und Meinungsfreiheit zur Folge hätte.

Recht auf Vergessen werden

Damit hatte der BGH dem Recht auf Vergessen werden eine Absage erteilt. Praktisch hatte das zur Konsequenz, dass eine einmal zulässige Berichterstattung in Internet, Presse oder Rundfunk im Nachhinein nicht mehr angegriffen werden konnte. Wer beispielsweise einmal als Straftäter Gegenstand öffentlicher Berichterstattung war, konnte, wenn nicht besondere Umstände vorlagen, nicht verlangen, dass solche Altberichte aus den Archiven gelöscht werden. Da viele Medienunternehmen ihre Archive im Internet zum Abruf bereithalten und jeder die Berichte über Suchmaschinen wie Google etc. finden kann, kam das einer lebenslänglichen Brandmarkung der Betroffenen gleich. Vor dem Hintergrund, dass es in der deutschen Rechtsordnung eine Restschuldbefreiung gibt, dass Straftaten verjähren und auch zivilrechtliche Ansprüche der Verjährung unterliegen, dass Eintragungen im polizeilichen Führungszeugnis und Punkte im Verkehrssünderregister in Flensburg nach einigen Jahren gelöscht werden ist diese Rechtsprechung schwer nachvollziehbar, zumal sich heutzutage viele Internetnutzer die Archiv-Funktion des Internet zunutze machen, beispielsweise um herauszufinden, mit wem sie es zu tun haben. So kommt es auch vor, dass Bewerber aufgrund alter Party-Fotos abgelehnt werden oder Geschäfte nicht zustande kommen, weil ein Unternehmen in der Vergangenheit einmal negativ aufgefallen ist.

EuGH: Der Fall

In dem EuGH-Fall ging es um einen Spanier, der im Jahr 1998 in einer Berichterstattung im Zusammenhang mit einer Pfändung genannt worden ist. Der Bericht wurde von so genannten Such-robots indiziert und konnte über Google abgerufen werden. Der Betroffene wandte sich im Jahr 2010 an die spanische Datenschutzagentur AEPD und bekam Recht. Das daraufhin von Google angerufene Gericht legte den Fall dem EuGH vor und verlangte Klärung, ob die EU-Datenschutzrichtlinie (95/46/EG) das Recht beinhaltet, dass Betroffene nach längerer Zeit die Löschung solcher Suchergebnisse verlangen können.

Warum überraschend?

Bei EuGH Verfahren erstatten Generalanwälte im Vorhinein Voten. Dabei handelt es sich um gutachterliche Auseinandersetzungen mit den durch das Gericht zu beurteilenden Rechtsfragen. Die der Entscheidungsvorbereitung und -hilfe dienenden Voten sind in der Regel sehr professionell und umfassend erstellt und können deshalb als ernst zu nehmende Rechtauffassung angesehen werden. Der Fall, dass der EuGH völlig von der Auffassung des Generalanwalts abweicht, tritt relativ selten auf. Vielmehr stellt das Votum des Generalanwalts oft ein starkes Indiz für die zu erwartende Entscheidung des EuGH dar. Im vorliegenden Fall hatte der Generalanwalt Niilo Jääskinen die Auffassung vertreten, dass sich aus der EU-Datenschutzrichtlinie kein Recht auf „Vergessen werden“ ergebe. Zwar stünde Bürgern ein Recht auf Löschen falscher oder unvollständiger Daten zu. Das Begehren zur Löschung von Daten, die ein Bürger seinen Interessen zuwider laufend oder abträglich einordne, stelle nichts anderes als eine subjektive Präferenz dar, die keinen Löschungsanspruch begründe.

Dieser Auffassung ist der EuGH nun entgegengetreten (Rechtssache C-131/12): Der Suchmaschinenbetreiber ist bei personenbezogenen Daten, die auf von Dritten veröffentlichten Seiten erscheinen, für die von ihm vorgenommene Verarbeitung verantwortlich. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Daten auf den Seiten Dritter bereits gelöscht oder noch immer abrufbar sind. Das bedeutet, dass der Suchmaschinenbetreiber seinerseits aufgefordert werden kann, die entsprechenden Daten zu löschen. Der EuGH bekennt sich in diesem Fall zur Anwendung der so genannten Verbreiterhaftung. Verantwortlich ist, wer an der Rechtsverletzung mitwirkt, in diesem Fall durch das Indizieren und Anzeigen der Inhalte. Die lange durch Google vertretene Auffassung, dass lediglich Inhalte Dritter angezeigt würden und deshalb eine eigene Haftung ausscheide, kann so nicht mehr aufrechterhalten werden. Der EuGH macht indessen eine aus medienrechtlicher Sicht wichtige Einschränkung: Die Rechte der Betroffenen setzen sich bei Vorliegen eines öffentlichen Informationsinteresses nicht ohne weiteres durch. Hier bedarf es einer Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht und dem Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu der Information.

Die EuGH-Entscheidung wird sich auf die Rechtsprechung des BGH zu Archiven auswirken und gibt Anlass, die Gesetze mit einem „elektronischen Radiergummi“ zu versehen. Dabei handelt es sich um eine Initiative, den Betroffenen das Recht zu geben, selbst über ihre Daten entscheiden zu können und eine einmal erteilte Einwilligung zurückziehen zu können. Übrigens: in Deutschland sah man sich zu einer Regulierung von Facebook & Co außer Stande. Der Vorstoß zu einem „elektronischen Radiergummi“ kam aus Brüssel. Die EU-Justizkommissarin Viviane Reding vertrat schon 2011 die Auffassung, dass jeder Europäer ein Recht darauf hat, vergessen zu werden.